2006 Strasser Wettbewerbstext

Das Licht des Schnees 

Wettbewerbstext 2006 - Tilman Strasser 

 

Es war Winter, ich fuhr meine Eltern besuchen. In meinem Heimatdorf lag der Schnee kniehoch. Mutter erwartete mich an der Haustür, ich hatte angerufen. Die Hände vor der Schürze gefaltet, den Rücken gebeugt, von ihrem schmalen Hals zeichneten sich zwei Sehnen ab.

Drinnen roch es nach Tee und Holz. Im Flur lagen ein Mantel und drei Paar Handschuhe bereit. Mutter fragte, ob ich immer noch keine Schals mag. Während ich die Jacke auszog, antwortete ich, es gehe mir gut. Sie bückte sich, um die Schuhe in Reihe zu stellen. Der Vater sei oben. Seit es kalt geworden sei, sehe er viel aus dem Fenster.

Vaters Hände lagen auf den Lehnen seines Schaukelstuhls. Sie waren schmaler geworden. Die Fingergelenke traten wie kleine Höcker hervor. Der Handrücken und die unteren Fingerglieder waren mit hellem Flaum bewachsen. Aus seinen Ärmeln ragten lange weiße Haare. Einige lockten sich über die Hand, die meisten hingen in Fäden von den Lehnen herab. Nur noch ein schmaler Hautstreifen trennte die hellgrauen, über den Kehlkopf herabwuchernden Bartstoppeln von den weißen Brusthaaren, die in Ringeln unter dem Hemdkragen hervor krochen. Aus der Nase und den Ohren spross das Haar in stacheligen Borsten, die wie kleine Speergruben von seinem Kopf abstanden. Er sah in den Schnee.

Mein Zimmer lag immer noch Keller. Das Bett war gemacht. Es kam fast kein Licht herein, das Fenster lag sehr tief. Ich wischte Staub von den Regalen und begann, auszupacken. Meine Pullover hängte ich in den Schrank. Die mitgebrachten Bücher legte ich neben das Bett. Den leeren Koffer stellte ich hinter die Tür.

Nachts fror ich und konnte nicht einschlafen. Die Bettdecke war zu kurz. Stundenlang wälzte ich mich herum. Schließlich kauerte ich mich zusammen, so dass die Knie fast meine Brust berührten. Dann tastete ich mit meinen Händen nach den Füßen.

Die tauben Zehen drückte ich zwischen Daumen und Zeigefinger. Die rauen Fersen umschloss ich mit dem Handteller. Ich strich über die Schienbeine nach oben. Die Kälte reichte bis zu den Gelenken. Meine Oberschenkel waren angenehm warm, doch darunter fühlte ich beinahe nichts.

Als ich noch klein war, starrte ich oft an meine Zimmerdecke, wenn ich nicht schlafen konnte. Vater hatte das Haus selbst gestrichen, die Wege des Pinsels waren gut erkennbar. Einige Kleckse und schräge Linien hoben sich von dem glatten Weiß ab. Wenn ich lange genug darauf starrte, bildeten sich aus den Unebenheiten Dinge und Gestalten. Früher glitten sie in meinen Halbschlaf, sickerten von der Decke in meine Träume. Dort begegnete ich ihnen dann auf immer neue Art.

Morgens musste ich mich auf dem Weg zum Bad an den Wänden abstützen. Die Unterschenkel waren so taub geworden, dass ich kaum laufen konnte. Den Duschstrahl stellte ich lauwarm ein. Es brannte schmerzhaft, wenn die Nerven durch das Wasser aus der nächtlichen Starre wieder erwachten.

Jeden Tag fiel Schnee. Alles war weiß. Die Bäume neigten ihre Kronen dem Haus entgegen. Die Hecken bogen sich unter der Last so tief, dass ich die Terrassen der Nachbarhäuser sehen konnte. Ich ging häufig spazieren.

Die Siedlung lag am Rande des Dorfes. Es führte ein Weg auf das offene Feld, welches von einem silbernen Waldring begrenzt war. In etwa hundert Meter Entfernung zum Fußweg verlief eine Straße. Hin und wieder blitzten Scheinwerfer durch den dichten Flockenfall. Motoren hörte ich nicht. Auf diese Distanz versackten alle Geräusche in der Schneedecke.

Um vorwärts zu kommen musste ich die Füße heben wie ein Storch, der durch einen Sumpf stakst. Meist begegnete ich niemandem. Nur hin und wieder kamen mir einzelne Spaziergänger entgegen. Sie grüßten nicht und hatten die Mützen tief ins Gesicht gezogen. Die Kälte biss in Wangen und Hals. Ich schaffte es nie weiter als bis zum Waldrand. Die gewaltigen Fichten sahen aus wie Adler mit erlahmten Flügeln.

Vater saß in seinem Schaukelstuhl, sah aus dem Fenster und rührte sich nicht. Täglich schnitt ich ihm mit einer Nagelschere die Haare hinter den Ärmelansatz zurück. Ich kürzte die Locken, die sich über den Hemdkragen wölbten, durchtrennte alles, was über Nasenloch und Ohrmuschel hinausragte und rasierte Hals- und Oberlippenpartie. Sorgfältig entfernte ich den gröbsten Flaum von den Händen, so dass die fahle Haut hindurchschimmerte. Mutter wechselte seine Kleidung. Er ließ sich an- und ausziehen wie eine Puppe. Von mir nahm er keine Notiz. Ich stellte gerahmte Photos ins Zimmer: Vater bei der Marine, Vater beim Wein verkosten, Vater mit Mutter im Arm. Wir schlossen die Tür nie ganz und ehe wir von unten die Treppe hochgingen, hielten wir inne und lauschten. Aber es gab nichts zu hören. Alles war still.

Ich fand meine Pullover nicht mehr. Sie waren zwischen den alten Sachen verschollen. Ich suchte sie lange, blätterte durch die aufgehängten Kleidungsstücke im Schrank, immer wieder vor und zurück. Aber sie blieben verschwunden. Auch ein bestimmtes Buch, das ich noch einmal lesen wollte, konnte ich nirgendwo entdecken. Die Titel der neben dem Bett liegenden Bücher kannte ich nicht.

Mutter fragte mich oft, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen sei. Ich antwortete immer, ich wüsste noch nicht, wann ich wieder zurück müsse. Wenn ich sie auf ihr Asthma ansprach, erwiderte sie meist, dass sie glaube, Vater gehe es nicht gut. Die Kälte nahm zu.

Nachts schlief ich nun ohne Probleme ein. Die Taubheit kroch inzwischen bis über die Knie hinaus. Noch im Bett musste ich morgens mit meinen Händen die Beine wärmen, sonst konnte ich nicht aufstehen. Ein paar Mal träumte ich davon, aufzuwachen und ohne Decke dazuliegen. Ich lag mit geöffneten Augen auf dem Bett und spürte überhaupt nichts mehr. Jeder Körperteil war von der Kälte taub geworden. Wenn ich dann wirklich aufwachte, zog ich wieder die Knie an, wie in den ersten Nächten. Doch meistens schlief ich die ganze Nacht durch.

Irgendwann konnte ich nicht mehr nach draußen. Es hatte besonders heftig geschneit. Der Schnee lag bis knapp unter die Fenster im Erdgeschoss. Die Tür war blockiert. Mutter lief durch das Haus und drehte die Heizungen auf die höchste Stufe.

Auch in den nächsten Tagen schneite es unaufhörlich. Mutter ging mit jedem Tag gebückter, als müsse sie die weißen Massen auf dem Rücken tragen. Der Fernseher funktionierte nicht mehr. Auch das Radio gab nur noch ein Rauschen von sich. Ich blickte den ganzen Tag aus dem Küchenfenster. Die Flocken waren nun größer. Anfangs waren sie noch fein und flach gewesen. Auf der Hand waren sie sofort geschmolzen und ich hatte ihre Kristallform nur kurz erkennen können. Jetzt waren sie rund, prall, ähnlich kleinen Flaumballen. Sie fielen sehr dicht. Wie ein Vorhang legten sie sich zwischen das Haus und alles, was dahinter war.

Gleich den Klecksen und Pinselstricheen an meiner Zimmerdecke schienen sich in der Flockenflut Konturen abzuheben. Ich begegnete ihnen immer wieder auf neue Art. Es gab viele Möglichkeiten, nach draußen zu sehen. Manchmal sah ich kleine, verschnörkelte Formen, die aussahen wie Bakterienkulturen unter dem Mikroskop. Und manchmal konnte ich im Schneegestöber riesenhafte Figuren erkennen, die dort draußen gemächlich umherstapften.

Eines Morgens gingen die Lampen nicht mehr an. Ich lief durch das ganze Haus und probierte jeden Schalter. Das Klacken hallte in den stillen Räumen. Nirgendwo begann eine Glühbirne zu leuchten. Auch der Herd und das Telefon funktionierten nicht mehr. Mutter suchte auf dem Speicher nach Kerzen.

Dennoch war es nicht völlig dunkel im Haus. Durch die Fenster fiel ein fahles Licht. Es war immer von gleicher Intensität, egal, ob es Tag oder Nacht war. Ein unruhiges, ungleichmäßiges Licht. Mir war, als würden dünne Schlieren aus Milch durch die Räume schweben. Es wanderte durch das Haus und brachte einen kalten Hauch in jeden Raum. Die Gegenstände, auf die es fiel, wurden beinahe transparent. Mein Vater sah in diesem Licht aus,wie eine Wachsfigur. Mutter kontrollierte die Heizungen mehrmals am Tag, doch sie wurden nur noch lauwarm. Nachts hörte ich den Boiler stottern und ächzen. Von den Fensterrändern kratzte ich mit einer Gabel ein paar Eisbrocken.

Aus meinem Kellerfenster konnte ich das Innere der Schneedecke sehen. Durch ihr eigenes Gewicht war sie inzwischen zu einer undurchdringlichen Schicht geworden. Noch einmal erwachte ich von einem Lichtstrahl, der auf mein Bett fiel. Ein sachter Wind hatte an einer günstigen Stelle etwas Schnee abgetragen und das Licht von draußen stand für kurze Zeit im richtigen Winkel. Nach einigen Minuten verschwand der Strahl wieder. Es war, als wäre der letzte Tropfen Saft aus einer Frucht gepresst worden. Ab diesem Morgen verließ ich mein Zimmer nicht mehr.

An die Kälte hatte ich mich gewöhnt. Die Arme und Beine waren dauerhaft von einem leichten Kribbeln durchzogen, das wie durch einen Schleier in mein Bewusstsein drang. Ich bewegte mich unbeholfen. Die Mutter brachte mir dreimal am Tag das Essen herunter. Den Vater vergaß ich beinahe. Nach oben wollte ich nicht mehr. Das Gesicht und die Brust waren oft nicht mehr von Haut, sondern von stumpfem Leder überzogen. Wenn ich Pullover oder Hose wechselte, hörte ich auf das Schaben, dass die Kleidung verursachte, wenn sie über den Körper streifte. Fühlen konnte ich es selten. Alles war taub geworden.

Ich erinnere mich kaum an die Zeit in dem dunklen Kellerzimmer. Ich weiß nicht, wie viele Tage ich dort verbrachte. Ich weiß nicht, was ich tat. Vielleicht starrte ich wieder an die Decke des Zimmers, vielleicht in die Decke aus Schnee. Vielleicht versuchte ich, den Körper wieder zu meinem zu machen. Vielleicht dachte ich nach. Ich weiß es nicht mehr.

Ich erwachte davon, dass etwas meine Füße berührte. Vom Fensterbrett hatte sich eine schmale Wasserspur abgesetzt. In regelmäßigen Abständen fielen Tropfen auf das Bett. Als ich die Kellertür öffnete, musste ich stehen bleiben, um mich an das Licht zu gewöhnen. Die Haustür ließ sich mit einem kräftigen Stoß öffnen. Ein Wasserschwall ergoss sich dabei über die Schwelle in den Flur.

Es war wärmer geworden. Auf den Feldern war der Schnee zurückgewichen und hatte eine krustenartige Oberfläche bekommen, eine dünne, poröse Eisschicht. Wenn ich meinen Fuß darauf setzte, knackte es leise und sie brach sofort ein. Der Schnee darunter knirschte wie Kies. Die Wege waren von einem dünnen Wasserfilm überzogen. Jeder Schritt wurde von einem leisen Schmatzen begleitet. Überall schimmerten Pfützen. Felder und Wiesen schienen aus reinem Sonnenlicht zu bestehen, meine Augen begannen unmittelbar zu tränen. An abschüssigen Stellen hatten sich funkelnde Rinnsale gebildet.

Jeden Morgen kam ich nun nach oben und streckte meine Glieder. Die Spaziergänge wurden länger. Ich begann wieder, dem Vater die Haare zu schneiden. Der Schnee zog sich von Tag zu Tag zurück. Die Stümpfe der Maispflanzen ragten bereits wieder aus der weißen Decke heraus. An den Rändern war die Kruste bald zu trübem Eis zerschmolzen. Es taten sich Risse auf und der schlammige Felduntergrund kam an vielen Stellen zum Vorschein. Bäume, die nicht unter der Last zusammengebrochen waren, ragten kahl und knöchern in den Himmel.

Bei einem meiner Spaziergänge drang ich in den Wald ein. Die meisten Tannen hatten den Schnee von ihren Ästen abschütteln können und standen nun wieder aufrecht. Ich lief zwischen ihnen hindurch und streifte dabei die morsche und mit Moos bewachsene Rinde mit meiner Hand. Von irgendwo tief im Geäst drang das schüchterne Zwitschern eines Vogels. Ich beschloss, den nächsten Zug zurück zu nehmen.

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